9.3. Unabhängige Massenkommunikation

"Mailbox"-Netze, "Usenet-News" und "Mailing-Listen"

Aus privaten Mailboxen, die seit Ende der siebziger Jahre in vielen Städten entstanden(221), entwickelte sich mit dem Fido-Netz(222) in den USA bald ein erstes unabhängiges, alternatives Netzwerk. Neben dem Fido-Netz, das heute ein internationales Netz ist, entstanden viele weitere, mehr oder weniger weit verbreitete Netze. Neben kleinen Zusammenschlüssen wie dem "Mausnetz", "MagicNet" oder "SevenNet", die aus ein oder zwei Dutzend Systemen bestehen, ist das "Z-Netz" mit über tausend Systemen das bedeutendste unabhängige Netz im deutschen Sprachraum. Wie auch ursprünglich beim Internet lautet das Prinzip der Mailbox-Netze: "Herrschaftsfreie, sprich unkontrollierte und unzensierte Information - Alles über alles von allen an alle."(223) So übt man sich hier in der Kunst des (möglichst) aggressionsfreien und konstruktiven Meinungsaustausches, erzeugt und sammelt Gemeinschaftswissen(224) und hat sein eigenes Medium. Die einzelnen Mailboxen in einem solchen Netz werden ehrenamtlich von Enthusiasten betrieben.(225)
Die freien, nichtkommerziellen Dienste haben sich in den letzten fünfzehn Jahren zu einer bemerkenswerten Öffentlichkeit entwickelt, die entgegen weitverbreiteter Vermutungen weniger von "Computerfreaks" als von Umweltschützern, Friedensaktivisten, Bürgerrechtlern etc. genutzt wird. Die Entwicklung der Mailbox-Netze wurde v.a. auch von der Schwierigkeit, außerhalb des Wissenschaftsbetriebes einen Internet-Account, also Zugang zu einem ins Internet eingebundenen Rechner zu bekommen, forciert. Sie sind v.a. deshalb als unabhängig zu bezeichnen, weil sie - außer auf das Telefon - auf keine Infrastruktur von außen angewiesen sind. Eine Verbindung zum Internet besteht zwar bei den meisten Mailbox-Netzen, die Mitglieder können so zumeist ihre elektronische Post auch an, bzw. über das Internet versenden, die Netze sind auf diese Übergänge zum Internet aber nicht angewiesen.
In der Regel ist die Mailbox-Kommunikation auch heute noch textbasiert. Wegen der geringen Bandbreite der Übertragungswege (Telefon) zwischen den Mailboxen und der Tatsache, daß sie nicht über Standleitungen miteinander verbunden sind (also jedes Angebot, das eine Mailbox ihren Mitgliedern machen möchte, auf den Mailbox-Rechner übertragen und dort "gelagert" werden muß), fallen vernetzte Hypertext-Angebote aus. Gleichwohl sind solche Angebote für lokale Informationssysteme innerhalb einer Mailbox denkbar.(226)
Wegen des technisch "niederschwelligen Zugangs" werden die Mailbox-Netze (die v.a. in jüngerer Zeit auch als Bürgernetze bezeichnet werden) seit dem Aufkommen der Diskussion um die "Datenautobahnen" oft auch als quot;Datenbürgersteige" bezeichnet, die gefördert werden sollten und über die öffentliche Einrichtungen erreichbar sein müßten.(227)

So wie die Mailboxen sich für die kommunale, bzw. regionale Diskussion und den Informationsaustausch anbieten, haben die Mailbox-Netze ihre kommunikativen Möglichkeiten in der internationalen Kommunikation schon mehrfach unter Beweis gestellt. Um dies zu verdeutlichen, seien hier nur zwei der bekanntesten Beispiele kurz vorgestellt:
- Als während des Golfkrieges das amerikanische Militär die etablierten westlichen Medien weitestgehend kontrollierte, waren sowohl im Internet als auch in den Mailbox-Netzen v.a. über den "gemeinsamen Dienst" der Usenet-News Augenzeugenberichte sowohl von Irakern als auch von Kuwaitis zu lesen. Leser dieser Nachrichten konnten, wie es für diese Anwendung typisch ist, bei den Augenzeugen rückfragen oder auch deren Aussagen kommentieren.(228) Dadurch erfuhren viele Menschen zum ersten Mal von der Existenz der Computernetze, auch wenn auf diese Art verbreitete Meldungen in den Medien weit weniger Beachtung fanden als die z.T. gefälschten Nachrichten und Bilder der amerikanischen Presse-Informationsstellen.
- Als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ausbrach, wurden die Telefonverbindungen zwischen den sich nun kriegerisch gegenüberstehenden Landesteilen unterbrochen, und auch der Briefverkehr kam, je nach Landesteil zumindest zeitweise, zum Erliegen. Mit Hilfe der Bielefelder Mailbox "Bionic" gelang es jedoch, eine Kommunikationsstruktur über die Frontlinien hinweg aufzubauen. Das "ZaMir" (für den Frieden)-Netzwerk sorgte über die noch bestehenden Auslandstelefonleitungen für die Nachrichtenvermittlung und wurde so zur wesentlichen Kommunikationsverbindung zwischen den Landesteilen.(229) Gleichzeitig sorgte z.B. das Tagebuch des holländischen Friedensaktivisten Wam Kat, das dieser aus Zagreb ins Netz einspeiste, für eine ganz andere Art von Information und Nachrichten für die Leser in der ganzen Welt, als dies die täglichen Nachrichtensendungen und Zeitungsberichte vermochten.(230)

Neben den angesprochenen "schwarzen Brettern" ("Newsgroups", von denen die meisten auch über das Internet zu beziehen sind), über die wohl jedes Mailbox-Netz verfügt und an denen Nachrichten nach Themengebieten sortiert "ausgehängt" werden können, gibt es noch die Möglichkeit, über sogenannte Mailing-Listen Nachrichten an "ein anonymes, prinzipiell unbegrenztes Publikum" zu leiten. Auch diese Möglichkeit fällt somit in den Bereich der Massenkommunikation, auch wenn sie eher unscheinbar ist. Mit der Einrichtung einer Mailing-Liste wird es jedem Menschen, der über eine e-mail-Adresse verfügt, möglich, sich als Empfänger der über diese Liste verbreiteten Nachrichten einzuschreiben, indem er eine Nachricht an den die Liste verwaltenden Rechner schreibt. Von nun an bekommt er alle Nachrichten, die an diese Liste geschrieben werden, per elektronischer Post zugestellt. Er selbst kann einfach einen Brief an die Liste schreiben, der dann wiederum allen anderen Mitgliedern der Liste zugestellt wird. Diese Möglichkeit bedarf der geringsten technischen Voraussetzungen, da aber die Nachrichten zusammen mit der Post eintreffen (und in Gruppen, in denen rege Diskussionen geführt werden, auch recht zahlreich sind) machen sie nur bei einer Konzentration des Benutzers auf wenige, für ihn besonders interessante Themen Sinn, da er sonst Gefahr läuft, in der Nachrichtenflut zu ertrinken.

Daß diese kaum kontrollierbaren Techniken auch Mißbrauchsmöglichkeiten bieten, liegt nahe. So haben inzwischen auch Rechtsradikale und Kriminelle eigene Netze aufgebaut.(231) Es scheint, als ob Teile der Politik und Presse sich entweder nicht im klaren sind oder nicht im klaren sein wollen, daß Regelungen über eine allgemeine Kontrolle nur die Kommunikationsfreiheit der Allgemeinheit einschränken können, ohne dabei jedoch die Nutzung dieser Kommunikationsmittel durch Kriminelle oder Rechtsradikale wirklich unterbinden oder kontrollieren zu können.(232) Eine Steigerung der Effizienz der Strafverfolgung in diesen Bereichen ließe sich - neben der Ausschöpfung der bestehenden Bestimmungen des Strafrechts - nur durch ein verstärktes Abhören aller Telefonverbindungen verwirklichen, da konspirativen Datennetzen nicht über die Kontrolle öffentlich bekannter Mailboxen auf die Spur zu kommen ist und wäre selbst dann eher unwahrscheinlich.



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